Filmportrait GEMEINSAM ÜBER SCHATTEN SPRINGEN

von Kerstin Petersen, Hamburg über die Orgelfassung (1977) der Passacaglia op. 16 von Ilse Fromm-Michaels (1888-1986) (Regisseurin Sophie Kill und das Hamburger Filmteam)

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Begleittext von Babette Dorn

Ilse Fromm-Michaels schuf die Passacaglia op. 16 zunächst für ihr eigenes Instrument, das Klavier. Im Februar 1932 schrieb sie in einem Brief: „Ich habe in den letzten Tagen meine Passacaglia endlich zu Ende
komponiert und bin sehr froh darüber! Sie ist bei weitem meine beste Komposition.“ Ein ungewöhnlich ungetrübtes Urteil dieser höchst selbstkritischen Musikerin.
Seit Beginn ihrer Karriere als Pianistin hatte sie sich mutig und engagiert für die (nicht immer ganz unumstrittenen) Werke von Komponistenkollegen eingesetzt und in sehr persönlich konzipierten
Konzerten diese und ihre eigenen Kompositionen zur Aufführung gebracht.
Am 12. April 1932 spielte Ilse Fromm-Michaels die Passacaglia in einem Konzert der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Hamburg zum ersten Mal – die Uraufführung wurde von Publikum und Kritikern sehr positiv aufgenommen: „In einer Klavierpassacaglia bewies Ilse Fromm-Michaels wieder ihre formale Sicherheit und ihren ernsten, vornehmen Geschmack. Das Thema ist sehr schön, schmerzlich und eindrucksvoll“ (Hamburger Anzeiger, 13. April 1932).
Bereits zu dieser Zeit instrumentierte Frank Wohlfahrt, Komponistenfreund und -kollege, das Werk und fügte einen anderen Schluss hinzu. So konnte im April 1933 eine weitere Uraufführung stattfinden: Eugen Jochum dirigierte die Orchesterfassung der Passacaglia in der Berliner Funkstunde. Das Echo war noch begeisterter, Komponistin, Orchesterbearbeitung und Dirigent wurden in der Presse hoch gelobt. Im Juni 1933 führte Eugen Jochum die Komposition ein weiteres Mal in Berlin auf, diesmal dirigierte er die Berliner Philharmoniker – ein Höhepunkt in der Karriere Ilse Fromm-Michaels‘ als Komponistin.
Musikalisch fällt der große Ernst der Passacaglia auf. Aus ihrer strengen Form erwachsen eine besondere Konzentration und Versunkenheit, die die persönliche Situation der Hamburger Komponistin im „Dritten Reich“ vorwegzunehmen scheinen:
Ihr Ehemann, der Jurist Dr. Walter Michaels, wurde wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 zwangspensioniert, einzige Einnahmequelle blieb privater Musikunterricht, denn Ilse Fromm-Michaels wurde trotz einer „Sondergenehmigung“ der Reichsmusikkammer nicht mehr als Konzertpianistin engagiert. Auf den großen Erfolg der Orchesterfassung ihrer Passacaglia im Frühjahr 1933 folgten keine weiteren Aufführungen – ihre Werke verschwanden aus den Konzertprogrammen.
Die Familie geriet in kürzester Zeit in die Isolation, Mann und Sohn waren zwar in der „privilegierten Mischehe“ geschützt, blieben aber bis 1945 latent gefährdet. Ilse Fromm-Michaels komponierte in der „Inneren Emigration“ weiter und setzte sich gerade in der Zeit ihres erzwungenen Schweigens in der Marienpassion op. 18 (1932/33), ihrer Sinfonie op. 19 (1938) und der Musica Larga (1944) auch mit größeren Formen und Besetzungen auseinander.
Im hohen Alter wandte sie sich 1976/77 erneut der Passacaglia zu und arbeitete sie für Orgel um. Wie schon Frank Wohlfahrt in seiner Instrumentierung nahm auch Ilse Fromm-Michaels Eingriffe in die
Originalkomposition vor, diesmal gleich beim Thema.
Diese neue Fassung der Passacaglia zeigt wieder andere Facetten: Nach der versunken-dramatischen Klavierkomposition (Jürgen Uhde: „Musik der Einsamkeit“) und der glänzenden, farbenreichen Orchesterversion wird das Werk auf der Orgel in gewisser Weise überhöht – das B-A-C-H-Motiv ist nicht zu überhören. Es ist, als kehrte die Komponistin gegen Ende ihres Lebens an den Anfang ihrer musikalischen Entwicklung zurück, an dem sie als kleines Mädchen „endlich guten Klavierunterricht und Harmonielehre“
bei Paul Meder, dem hoch geschätzten Kantor der Hamburger Petrikirche, erhielt und die Musik Johann Sebastian Bachs für sich entdeckte.
Die Uraufführung der Passacaglia op. 16 für Orgel fand im Januar 1977 in Detmold in der Neuen Aula der Nordwestdeutschen Musikakademie statt, es spielte der 21-jährige Christoph Grohmann, Student in der Orgelklasse von Prof. Helmut Tramnitz. 1981 erschien das Orgelwerk im Verlag Merseburger, Herausgeber war der Berliner Organist Karl Hochreither, der sich mit der hochbetagten Komponistin in einem Briefwechsel noch über viele Details der Notenedition austauschte.
Ilse Fromm-Michaels trat in Hamburg auch als Frau couragiert für neue künstlerische und gesellschaftliche Wege ein, sie war Mitglied im Zonta Club, engagierte sich in der GEDOK und wurde 1951 als erste Frau in die Freie Akademie der Künste aufgenommen. 1946–1959 lehrte sie an der Musikhochschule Hamburg, 1957 wurde ihr der Titel als Professorin verliehen. Das Grab der Künstlerin findet sich auf dem Friedhof
Hamburg-Ohlsdorf.
Die Interpretin Kerstin Petersen schreibt über Ilse Fromm-Michaels: „Über die Zeiten hinweg berühren ihr Schicksal und ihre Musik. Die tief empfundenen ‚Klänge der Einsamkeit‘ ringen in der Passacaglia mit
kraftvollen dramatischen Ausbrüchen und heben die kontrapunktische Form auf eine expressive Ebene. Die Musik öffnet sich in den letzten Takten in eine schwungvolle Geste nach F-Dur, sodass das ganze Werk
eine innere Wende nimmt und in überirdischer Schönheit ausklingt.“
Kunst kennt keinen Shutdown.